TERMINUS "GRAPSCHEN"
Der aktuell in unserer Gesellschaft erscheinende oberflächliche und lautstarke Konsens zum Terminus "Grapschen" legt nahe, dass jegliche nicht primär einvernehmliche Berührung einer Frau eine per se verwerfliche Handlungsweise sei und sei diese noch so flüchtig und weitab von einer genitalen Zone. Zwei Beispiele:
Situation (1)
Tanzveranstaltung, Aufforderung einer fremden Dame und dann z.B.
ein Walzer. Der Mann initiiert eine Dosis der Berührung mit den Beinen. Der Mann umfaßt die Taille seiner Partnerin. Dabei nähert er sich mit der Kleinfingerseite seiner rechten Hand - eben gerade auch bei korrekter Verhaltensweise - der Kontur der Gesäßregion. Die nur ganz leichte Berührung (Beine und Hand) des fremden Körpers
wirkt auf den Mann sexuell stimulierend. Es findet eine Berührung ohne Gespräch statt. Ist das Grapschen?
Situation (2)
Eine politische Großveranstaltung. Die Menge steht einem zentralen Rednerpult gegenüber. Die Menschen stehen lose nebeneinander, gestikulieren, applaudieren, gehen z.B. einen Schritt zur Seite, weil zwei oder drei Organisatoren einen geraden Weg durch die Menge gehen müssen. Dabei kommt ein junger Mann, mehr zufällig,
näher zu deiner jungen Dame zu stehen, die er nicht kennt, die er aber bewundernd schon von der Seite beobachtet hatte. Er berührt - halb Absicht halb Zufall im Zuge des Hinundhergeschiebes der Menge - mit dem Handrücken leicht die fremde Frau am Gesäß. Einem Impuls folgend führt er die Bewegung ein zweites Mal aus. Die Frau wirft ihm einen erstaunten bis missbilligenden Blick zu. Der Mann entschuldigt sich und es kommt zu einem Gespräch, für dessen Beginn der Mann zutiefst dankbar ist. Denn der junge Mann ist extrem schüchtern und empfand seine Unfähigkeit, eine fremde Frau anzusprechen, bisher immer als eine exzessive Qual. Aus der beschriebenen Situation entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Ist die Bezeichnung "Grapschen" hier der korrekte Terminus?
Wie tiefer stehend beschrieben (letzter Absatz), hängen sexuelle Handlungen und Empfindungen u.a. mit tiefen und wenig erforschten Schichten unserer Psyche zusammen und entziehen sich teilweise einer klaren Justiziabilität und somit ist teilweise auch die ethische Beurteilung erschwert. Man sollte sich deswegen hüten, jegliche nicht vorab einvernehmlich geregelte Berührung als verwerflich zu bezeichnen.
THEMATIK SEXUELLE SELBSTBESTIMMUNG
Es geht hier um die sexuelle Kontaktaufnahme, die von einer Person initiiert wird und eine andere Person bedrängt. Trotz aller Entwicklungen und Veränderungen in diesem Beziehungsfeld gibt es zwischen Mann und Frau meist ein bestimmtes Grundschema, wenn sexuelle Zeichen oder Aktivitäten entstehen, und zwar sind Mann und Frau kraft Konvention und wahrscheinlich auch basierend auf dem genetischen Konzept deutlich an diese Verhaltensweisen gebunden, so dass sich ein Mann nicht wie eine Frau verhalten kann oder umgekehrt. Folglich erkennen wir zwei Möglichkeiten:
a) Der Mann handelt, um sexuell aktiv zu werden (z.B. Anrede)
b) Die Frau zeigt sich, um den sexuellen Aspekt zu berücksichtigen, sie will z.B. attraktiv erscheinen. Sie handelt jedoch meist nicht (z.B. Anrede).
Wenn ein Mitmensch mit mir Kontakt aufnimmt, so kann dies auf mehreren Ebenen geschehen: Er kann Verbindung aufnehmen mit meinem visuellen System, meinem auditiven System oder mit meiner Körperoberfläche. Es ist Konsens, dass die ungebetene Berührung der Körperoberfläche mit erotischer Intention (Stichwort Grapschen) die sexuelle Selbstbestimmung verletzt. Wenn man sich an den aktuellen Verlautbarungen in den Medien (anläßlich des Falles Weistein) orientiert, so wird das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung fast ausschließlich durch Männer verletzt.
Wie steht es aber aus Sicht der Männer mit der ungebetenen Kontaktaufnehme, dem Eindringen in ihr visuelles System, welches eine erotische Beziehung setzt? Was bedeutet die Zunahme von optischen Zeichen der weiblichen Sexualität (Stichwort Kleidung, Plakate, Internet, Pornographie u.a.). Im Unterschied zu dem oben beschriebenen Standardfall der männlichen Aktivität besteht hier keine individuelle Zuordnung. Zur Fra ge der sexuellen Selbstbestimmung (hier des Mannes) müssen wir ein Gedankenexperiment unternehmen und zwei Extreme aufgreifen: Es könnte sein, dass jegliche Darstellung der weiblichen Sexualität nur eine Bereicherung, eine gewünschte Auffüllung der Sexualität des Mannes bedeutet oder - gegensätzlich vermutet - es könnte sein, dass die allgegenwärtige visuelle weibliche Sexualität die Männer belastet, ihnen schadet. Wenn man überlegt, ob Letzteres zutrifft, sollte man die aktuelle Szene evolutionär (per Gedankenexperiment) ins Extreme extrapolierten, um sich vielleicht vorstellen zu können, wie eine immer weiter sich erotisierende Gesellschaft (visuell hauptsächlich repräsentiert durch den weiblichen Körper) auf den einzelnen Mann wirkt. U.a. wären dann Porno-Videos im öffentlichen Raum kontinuierlich präsent, wesentlich mehr Transparenz bei der Bekleidung als heute, visuelle Darstellungen zur Partnerbörse, und weitere Zeichen, die uns heute als Vorstellung nicht einfallen, vielleicht große Gebäude in der naturalistischen Nachformung des Genitales einer berühmten weiblichen Persönlichkeit mit den umgebenden Körperformen und ihrer Hand zur Simulierung des Erregungszentrums (siehe Madonna), kurz: Es wäre keinerlei Einschränkung in der Darstellung von Sexualität gegeben, ein im Park entkleidet masturbierende Frau oder Sex zu dritt in der Hotellounge wäre so selbstverständlich wie das Vorweisen einer Fahrkarte gegenüber dem Eisenbahnschaffner. Es ist kaum anzunehmen, dass dies zu einer positiven Entwicklung der Gesellschaft beitragen würde. Warum nehmen wir also mit einer so schlafwandlerischen Sicherheit an, dass die Entwicklung der sexuellen Freiheit ab dem 19. Jahrhundert bis jetzt im wesentlichen nur zu begrüßen sei und warum wird die oben anskizzierte Weiterentwicklung - so meine Vermutung - mehrheitlich nicht gut geheißen?
Zur Beurteilung der Belastung des Mannes ist hier ein Gesichtspunkt wichtig: Bei aufscheinender Erotik reagiert fast jeder Mann mit einer positiven Emotion oder mit einer Emotion der aufkommenden Begierde im Sinne eines Vorganges, der ihm einer seits willkommen ist, den er aber andererseits insbesondere bei ständiger Berieselung im Alltag nicht befriedigend steuern kann. In der oberflächlichen Erscheinung bleibt es jedoch bei dem Bild einer weitgehend intakten modernen Entwicklung der zunehmenden auch sexuellen Freiheit. Angenommen nun, es wäre so, dass die heute praktizierte Dosis den Männern schadet, was meine Vermutung ist, so hat die sich daraus ergebende Fragestellung kaum eine Chance ernst genommen zu werden. Denn der Denkweg richtet sich gegen die empfindlichste seelische Bastion der Männer, den Stolz auf ihre Männlichkeit. Um zur Frage der von mir vermuteten Beraubung des Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung (der Männer) zu kommen, müssen wir vom männlichen Empfindungsprofil der Sexualität abstrahieren und von neutraler Warte aus die angesprochene optische Konfrontation betrachten. Schließlich ergibt sich als logische Konsequenz noch die Frage, ob die Frauen überhaupt die Verursacher ihrer vermehrten erotischen Präsenz sind. Verneinen könnte man dies aber wohl nur, wenn man behauptet, jede Erscheinung weiblicher Erotik würde in der Erstellung immer auf die Ausübung eines Zwanges durch die Männer zurückgehen - eine Vorstellung, die mit den Tatsachen nicht vereinbar ist.
Vielleicht können wir auf einer anderen Ebene die hier zu beurteilende Handlung der Frau, das übersteigerte erotische Sich-Zeigen und die dazu gehörige ethische Bewertung vergleichend aufgreifen, dazu wieder ein Gedankenexperiment:
Stellen wir uns ein Elternpaar mit einem kleinen Buben vor, der furchtbar gerne Schokolade und andere Süssigkeiten verspeist, am liebsten in unbändigen Mengen, mit einer erkennbaren heftigen Begierde. Den Eltern gefällt es sehr, wie dabei im Genuss seine Augen glänzen, wie er sie befriedigt anblickt, wie seine ganze Mimik Vitalität und Freude ausstrahlt. Natürlich wissen die - gebildeten - Eltern um die Gefahr des Kohlenhydrat-Genusses und sie haben jetzt drei Möglichkeiten zu reagieren:
(1) Sie geben der Lust des Buben nach, weil man ihm die Freude nicht nehmen sollte und tolerieren sein Übergewicht und dessen Gefahren.
(2) Um bei dem auch für sie (die Eltern) vergnüglichen Spiel zu bleiben, bieten sie dem Buben immer wieder die begehrten Objekte an, so oft wie im Fall (1), wo dann immer gegessen wird. Sie sind immer wieder betört von der Freude und dem werbenden Verhalten des Kindes. Jedoch verweigern sie in den meisten Fällen den Zugriff, weil sie zu Recht die schädliche Wirkung fürchten. Es verbleibt Normalgewicht.
(3) Die Eltern vermeiden - so gut es geht - den gehäuften Umgang mit Süssigkeiten, lassen jedoch von Fall zu Fall den dosierten Genuss zu. Das Körpergewicht bleibt im Zielkorridor.
Die Verhaltensweise (1) ist sicher ethisch verwerflich.
Die Verhaltensweise (3) ist wohl weitgehend in Ordnung.
Bei der Verhaltensweise (2) schaden die Eltern dem Kind. Sie wählen diese Handlungsweise als Spiel, das ihnen zu Teilen Vergnügen bereitet und sie erkennen immer wieder, wie leicht es ihnen fällt, bei dem Kind dieses werbende und ihnen schmeichelnde Verhalten auszulösen. Sie sind die Beherrscher der Lage. Vielleicht halten sie diese Strategie für angebracht, weil sie den Buben gegenüber den aufscheinenden Genüssen abhärten wollen. Die unnötigerweise gehäuft entstehende Frustration wird dem Kind jedoch schaden und löst vielleicht aggressive Handlungen aus.
Wir können nun den Fall (2) vergleichen mit der Situation der Männer in unserer erotisierten Gesellschaft. Wie die Eltern nicht das richtige Maß finden im Umgang mit den Süßspeisen, so finden die Frauen nicht das richtige Maß im Sich-Zeigen. Beide Verhaltensweisen schädigen das zugehörige Objekt, im einen Fall das Kind, im anderen Fall die Männer.
So trifft also auf jeden Mann, Stand heute, eine Gesamtdosis der visuellen weiblichen Sexualität, die sich aus der intensiven Durchdringung der Lebensräume mit erotischen Inhalten ergibt. Die Anzahl dieser Geschehnisse ist dabei wesentlich häufiger als die oben genannten Verfehlungen der Männer, die Schwere der jeweils einzelnen Belästigung ist jedoch ganz wesentlich geringer. Daraus läßt sich abschätzen, dass die gesamte Belastung der Männer zum Thema sexuelle Selbstbestimmung im Vergleich zu den Frauen nicht vernachlässigbar gegen Null geht und es lässt sich nicht erkennen, dass die Belastung bei den Männern um Faktoren geringer ist als bei den Frauen. Zusätzlich erscheint mir persönlich das Folgende unvorstellbar: Im gesamten Lebensraum der menschlichen Sexualität existiert substanzliches Bösesein bei den Männern um Größenordnungen mehr als bei den Frauen.
Es verbleibt nun die Frage, welche Dosis von Sich-Zeigen (Frauen) oder Anrede oder Berührung (Männer) in Ordnung ist und wo die sexuelle Selbstbestimmung verletzt wird. Eine in Stein gemeißelte Antwort für die Linie, welche die beiden Bereiche trennt, ist hier wohl nicht möglich. Viele Segmente der Sexualität sind nicht quantifizierbar und hängen mit tiefen Schichten des Unterbewußten zusammen. Mit Sicht darauf ergibt sich in der Grauzone von erlaubt und nicht erlaubt eine erschwerte Zuordnung von Strafbarkeit, ganz sicher jedoch nicht gegenüber der inkriminierten Handlungsweise z.B. eines Herrn Weinstein. Die zunehmende Transparenz und Justiziabilität ......für solche Delikte ist unbedingt zu begrüßen, die fehlende Diskussion über die Entwicklung der Sexualität in den anderen oben beschriebenen Bereichen ist zu bedauern.
Folgende Termini oder Entitäten sind nicht genügend geklärt, wurden aber trotzdem verwendet, um eine provisorische Gedankenskizze zum Problem möglich zu machen:
Die dargestellte strikte Trennung in zwei Geschlechter existiert so nicht.
Substanzielles Bösesein ist ein ungenügend geklärter Begriff.
Die beschriebenen männlichen und weiblichen Verhaltensmuster existieren nicht in dieser klaren Unrerscheidung.