DIE ZEIT Ausgabe vom 15.11.18

Die verhassten Weltbürger (Artikel zur Titelseite)

Die ersten zwei Drittel des Artikels greifen im wesentlichen deskriptiv die Entität des Weltbürgers und den Kosmopolitismus auf. Im letzten Drittel kommen deutlich wertende Komponenten dazu. Das vom Autor gesetzte Gedankenkonstrukt zu dem Konflikt beschreibt zwei Gruppen der Bevölkerung: der kulturell arrivierte Kosmopolit auf der einen Seite und die abgehängten weniger gebildeten Provinzler u.a. auf der anderen Seite, wo sich die Neider und Beschimpfer jener ersteren befänden. Der Autor verkennt völlig, dass die Gegenerschaft gegenüber jener Kultur- oder Zivilisationsblase (heutiger Kosmopolitismus und Globalisierung) sich aus ganz anderen Überlegungen speisen kann, die zu erkennen der heutige Kosmopolit im allgemeinen zu wenig achtsam ist.

Stichworte dazu:

Weltbürgertum verbraucht sowohl für die Personen- wie die Güterbewegung ungeheuere Mengen von Ressourcen, die unseren Nachfahren fehlen.

Die global präsente, merkantil orientierte Forschung (z.B. soziale Netzwerke, KI) verkauft Neuerungen als Paradigmawechsel, obwohl ein mehr oder weniger eintönig-lineares Fortschreiten erkennbar ist.

Caffee to go (Titelbild der ZEIT-Ausgabe) als internationales Kennzeichen vom Niedergang der Frühstückskultur (siehe Streiflicht der Süddeutschen Zeitung von ca. Mitte September).

Entwicklung der Fotografie sklavisch hineingequetscht in die für die global präsenten IT-Instrumente (Smartphones) erforderliche Miniaturisierung.

Flächendeckende Augen-Fehlentwicklung der Kinder durch IT.

Die Ästhetik der Welt lebt von der Diversität ihrer Teile, also auch von der Diversität der Bevölkerungsgruppen. Bewegungsgeschwindigkeit und Verbreitung von gleichen domi-nierenden Merkmalen überall nivelliert diese Diversität. Überspitzt gesagt: Was dann übrig bleibt, ist der ubiquitäre Brei der Kosmopoliten und der Globalisierung.

In diesem Sinn ergibt sich mein Verdacht, dass z.B. ein hiesiger vermeintlicher Kenner der "georgischen Chatschapuri"-Esskultur keine Ahnung davon hat, wie ein angemessen kennt-nisreich zubereitetes einfaches Hefegebäck köstlich schmecken kann, u. a. weil es eben von diesem Gericht vielleicht 20 verschiedene (in Deutschland oder Italien) Zubereitungs-möglichkeiten gibt, von denen eben nur zwei exzellent munden.

Wie korrespondiert die vermeintliche "spontan lächerliche.....würdevolle Gesetztheit"

eines Dorfbewohners mit der Idee, diese Wesenheit samt ihrer architektonischen Präsenz und Historie (Kirchen, Häusergruppen) einfach wegzubiemen und durch ein zeitgenössisches Konstrukt zu ersetzen?

Diese Liste der Skepsis gegenüber Weltbürgertum und Globalisierung ließe sich bei angemessener geistiger Beweglichkeit noch lange fortsetzen und zwar ohne die ewig gestrigen Argumentationswege z.B. der AfD. Sicher sind dem Autor die oben angesprochenen Befunde auch bekannt. Aber warum verschweigt er diese ganz anderen Motive zur Kritik. Möglicherweise ist es für ihn erschwerend, dass dieselben Entitäten (heutiges Weltbürgertum und Globalisierung) einerseits mit abwegigen und dummen Argumenten (Lesart AfD) und andererseits mit nachhaltiger und treffender Kritik belegt werden können.

Mir ist es schier unerträglich, wie der Autor nahelegt, jene globale Elite wäre gleichsam das Maß aller Dinge und Skepsis ihr gegenüber wäre immer verbunden mit Zurückgebliebenheit und Defizit an Kultur. Ihm sei zur Lektüre z.B. Frank Schirrmacher oder Ludwig Wittgenstein empfohlen, dort kann man lesen, auf welch tönernen Füßen der Glaube an den Technologie-getriggerten Fortschritt steht.