Lawinenunglück in Lech am Arlberg am 13.01.19
Es gibt drei Geschehenszüge, die bei diesem und ähnlichen Unfällen bedeutsam sind, ohne dass auf deren Kohärenz und teilweise auch deren Existenz bisher hingewiesen wurde.
1) Der Arlberg ist weithin als eine der attraktivsten Freeride-Regionen bekannt. Eine vergleichsweise große Anzahl von engagierten und verantwortungsvollen Off-Pist-Fahrern suchen besonders nach Neuschnee diese Region auf um das Schweben auf unverspurten Hängen zu genießen. Die meisten Schneesportler sind angemessen ausgerüstet und auch im Notfall-Management geschult und sind sich auch der Verantwortung für das eigene Leben und das anderer bewußt. Letztere können als Kameraden oder auch als Unbeteiligte jederzeit in einen Lawinenunfall mit hineingezogen werden.
2) Es gibt also gut erprobte und hoch qualifizierte Ausrüstungen einerseits und gut abrufbares allgemeines Fachwissen andererseits (Schulungskurse, Internet, Fachbücher, Fachpresse). Im Verhältnis dazu ist nun eine weitere Gruppe von Sportlern zu erkennen, die entweder sich diese Voraussetzung nur ansatzweise oder jedenfalls ungenügend verschafft hat oder Equipment und Kenntnisse zwar besitzen, jedoch dann wider besseres Wissen handeln und sich als Hasardeure in bekanntermaßen gefährdete Hänge begeben.
3) Und drittens gibt es Freeriding oder auch Variantenfahren als eine von lokalen Skilehrern (Guides) begleitete Option. Dabei ergeben sich folgende Bedingungen:
Die Seilbahnbetreiber und die lokalen Entscheidungsträger haben sehr effektive Lawinen-Sprengsysteme eingerichtet (u.a. stationäre und bewegliche Spreng-Einrichtungen, abrufbare Messdaten aus den Anlagen vor Ort, vom Hubschrauber abzuwerfende Sprengladungen). Zu diesen Einrichtungen pflegen die Genannten einen Informationsaustausch mit landesweit anerkannten Lawin-Experten, die auch vor Ort gelegentlich ein gesetztes Sicherheits-Management beurteilen. Die Skischulen tauschen mehr oder weniger kontinuierlich Informationen mit den oben Genannten und deren Einrichtungen zur Lawinensicherheit aus.
Die Skischul-Organisationen halten jährlich vor Ort Schulungen zum Thema der lokalen Lawinengefahr ab (u.a. zu neuen Seilbahnen, neuen Ski-Routen). Bei Fahrten im freien Gelände pflegen die Skilehrer untereinander und mit ihrer Zentrale einen regen Informationsaustausch zum Gefahrenpotential einschlägiger Hanglagen, auch insbesondere zum Stand der Sprengungen. Zu allen diesen genannten Gesichtspunkten besteht seitens der Skilehrer ein auf moderner IT basierender Nachrichtenzugriff. Zusätzlich besitzen sie aufgrund ihrer Ausbildung wesentlich mehr Fähigkeiten und allgemeines Wissen zur Lawinenproblematik als die meisten Touristen.
Dies alles bewirkt nun, dass bei der Gruppe (1) geschätzt um den Faktor 10 (oder höher) mehr Lawinenunfälle passieren als bei der Gruppe (3), ganz zu schweigen von der Gruppe (2). Übrigens glauben die meisten Wintertouristen, der höhere Sicherheitsfaktor in der Gruppe (3) wäre durch die allgemeine Qualifikation via Skilehrerausbildung bedingt; dies ist ein Irrtum, bedeutsamer ist wohl das lokale oben beschriebene Information-Netzwerk.
Zurück zum Lawinenunfall vom 13.01.19 in Lech: Im Bereich des Unfallgebietes befindet sich ein Hangbezirk, der bei entsprechender Schneelage routinemäßig im Sprengprogramm vorgesehen ist. Dies war auch an diesem Tag der Fall. Da jedoch Sprengungen bei widrigen äußeren Umständen (u.a. Sturm, Sicht, Verfügbarkeit) nicht in den notwendigen kurzen Zeitabständen stattfinden können, musste man die Strecke sperren.
Wie hätte ich anstelle der vier Getöteten mich verhalten, als ein fast-Arlberg-Insider mit gut fünfzig Jahren alpiner Ski-Erfahrung? Nun, Lawinenstufe 3 ist kein ernsthaftes Argument, Fahrten im freien Gelände generell zu unterlassen, schließlich gilt diese Stufe an den anteilig meisten Tagen während der Saison. Zum Unfallzeitpunkt hatte sich die Sicht deutlich gebessert, man konnte den unberührten Hang einsehen. Und dann das Sperrschild. Ich hätte wohl gierig den Hang hinuntergeschaut, geschluckt und wäre nicht gefahren, wohl aber wäre mir der Verzicht schwer gefallen. Hätte ich allerdings den Informationsstand der Ski-Guides gehabt (ausgebliebene Sprengung oder vermutete ausgebliebene Sprengung bei Sperrung und Kenntnis zur lokalen Logistik an diesem Hang), wäre mit Sicherheit keinerlei Versuchung aufgetreten. Das Gleiche gilt wahrscheinlich für die vier ums Leben gekommenen, ein banales Informations-Defizit hat ihnen vermutlich das Leben gekostet. Wohlgemerkt, den angesprochenen Informationsstand besaß ich zum Unfallzeitpunkt nicht, trotz meiner sehr reichhaltigen fast fünfzigjährigen Erfahrung als "Tiefschnee-Gast" am Arlberg.
Die angesprochenen lokal-spezifischen Informationen erhielt ich erst bei einer Anfrage nach dem Unfall.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Zusammenhang? Die unter (3) beschriebene Informationsmasse ist von solcher Art, dass man sie aufbereiten und als abrufbare Information per IT oder in Grenzen auch als gedruckte Info zur Verfügung stellen kann, Beispiele: topographisch Karte mit ausgewiesenen Lawinenstrichen und Sprengbezirken, Markierung der Akutheitsgrade, geplante und stattgefundene Sprengungen, kurzfristige Updates dazu, relevante aktuelle Notierungen zu bestimmten Skirouten aus zeitnahen Erfahrungsberichten, kurz die gesamte unter (3) benannte Informationsmasse, die einem Skilehrer zur Verfügung steht z.B. als aufbereitete App oder Internet-Portal. Im Besitz einer solchen wären die vier Variantenfahrer wahrscheinlich nicht gestorben.
Wie aber steht es mit der Möglichkeit, einen solchen Ansatz zu realisieren? Zunächst sind die angesprochenen Gegebenheiten seit langer Zeit gewachsene Strukturen. Man hat sich einfach daran gewöhnt, dass die Skilehrer Informationen besitzen, die dem "Normalverbraucher" nicht zugänglich sind, man versteht dies als Privileg, das man nicht antasten will. Auch ist man geneigt, diese Gebirgsdörfer samt ihrer Bewohner als eine Erscheinung zu sehen, der wir uns als Auswärtige nicht bis in die inneren Fragen annähern können und so ergibt sich ein für die Außenständigen nicht zugänglicher Echoraum. Jedenfalls ist es so, dass die Offenlegung der oben beschriebenen Informationsmassen bisher niemand zum Thema gemacht hat. Hier Schranken aufzubrechen, ist sicher ein legitimes Anliegen, weil es ja um Menschenleben geht. Sogleich tauchen jedoch Einschränkungen auf: Wie steht es mit der Finanzierung einer solchen Informations-Instanz? Von der relativ geringen Anzahl der Zielgruppe kann diese wohl nicht generiert werden. Wie geht die Zielgruppe mit den zur Verfügung gestellten Informationen um? Sicher würde man den unter (2) benannten Personenkreis noch stärker motivieren, unverantwortliche Wagnisse einzugehen. Ist das beschriebene Alleinstellungsmerkmal, der Wissensfundus der Skilehrer ein berechtigter Anspruch, etwa des Sinnes: Wir und die örtlichen Instanzen haben uns dies erarbeitet und sind berechtigt, es exklusiv zu vermarkten?
Viele Fragen ergeben sich, von denen aus meiner Sicht die drägendsten sind: Ist es nicht unverantwortlich, den Skiläufern aus der Gruppe (2) Hilfestellungen zu ihrer unverantwortlichen Verhaltensweise zu geben? Kann man es den Skilehrern verdenken, wenn sie ihr Wissen nur für ihre Zwecke gezielt anwenden? Wo läge die Verantwortung zur Realisierung eines solchen oben genannten Informationspools?
Sicher nicht bei den örtlichen Instanzen allein. Sicher ist nur, dass Handlungsbedarf besteht, es geht um Menschenleben. Und da müssen auch neue ungewohnte Denkwege erlaubt sein.