Spiegel-Gespräch mit der französischen Historikerin Elisabeth Roudinesco

Über die Psychoanalyse.

Dabei klingt die u.a. Frage an, inwieweit die Psychoanalyse heute noch Anspruch auf eine weitgehende Kompetenz erheben kann. Frau Roudinesco bezieht Position pro Psychoanalyse.

(Spiegel-Ausgabe 04.06.12)

 

Der im Interview sich abzeichnenden Position von Frau Roudinesco kann ich nur zustimmen. Aus meiner Sicht weist die aktuelle gesellschaftliche Situation vor allem in den westlichen Industrienationen bedeutende Defizite auf. Impulsiv möchte ich dazu einige Denkfiguren auf den Tisch schleudern:

  1. Allgemein erkennbar ist die Forderung nach schnellem Erfolg, auf Knopfdruck soll alles sofort erreichbar sein: die Erkältung weg; der schnelle Sex; Google-Nachschlag mit sofortigen dreißig Antworten auf die Frage, was ein Flaschenzug ist; Trödeln ist Zeitverlust; fertig blühende Pflanzen für die Terrasse statt irgendwelche Aufzucht; Empirie als Maxime: Man hat das Ergebnis, danach richten wir uns – warum, das interessiert niemanden. Auf der Basis einer solchen Konzeption ist eine tiefe, fragende Vorgehensweise wie die Psychoanalyse natürlich fehl am Platz.
  2. Der schlüssigste Weg, den Gedankenapparat des Menschen (also die Psyche im weitesten Sinn) zu heilen, ist es eben, den Apparat als ganzen zu befragen. Das ist aufwendig und kostet Zeit. Die folgerichtige Verweigerung der Psychoanalyse, orientierent am Mainstream unserer Zeit, ist nicht Ausdruck einer Überwindung dieses Theoriengebäudes sondern der zunehmenden Unfähigkeit, tiefe und kohärente Denkwege zu gehen.
  3. Vielleicht ist der folgende Gedankensplitter gar nicht so verkehrt, unsere aktuelle Situation zu kennzeichnen: Bilder gewinnen zunehmend Bedeutung in der Masse der Zeichen, die wir zur Informationsübermittlung in unserer Welt verwenden (z.B. Pictogramme, bildliche Prozess-Darstellungen, Gebrauchsanweisungen, Pornografie, Fernsehkonsum, Bilder-bepflasterte Aggression fast aller Websites oder Bildschirmflächen), Schrift tritt dem gegenüber zurück. Ein ähnliches Mengenverhältnis von Bild zu Schrift hatten wir schon einmal, nämlich in der Steinzeit, die Höhlenzeichnungen bezeugen es, damals gab es noch keine Schrift. Vielleicht entwickeln wir dorthin zurück.
  4. Beispiel Architektur: Zur Zeit der Erbauung des Klosters Batalha in Portugal oder des Baptisteriums in Florenz benötigte man für die Erstellung von einem Kubikmeter umbauten Raum dieser Epoche-Kristalle der Ästhetik eine bestimmte Anzahl von menschlichen Arbeitsstunden (Vision – Planung - handwerkliche Arbeit einschließlich deren Erlernung anteilmäßig – Finanzregelung – Beteiligung öffentlicher Entscheidungsträger). Heutige Bauwerke, die den Anspruch auf künstlerische Gestaltung erheben, benötigen für die Erstellung von 1 Kubikmeter einen Bruchteil davon, sagen wir ein Hundertstel, Beispiel dazu sei der bekannte ca. 800-Meter-Turm in den Arabischen Emiraten. Ja glaubt man denn im Ernst, dass die heutige Bauwerk-Erstellung mit der lächerlich rudimentären Gehirnbegleitung durch die Menschen (annahmeweise wie oben: ein Hundertstel gegenüber früher) mit den Resultaten früherer Epochen konkurrieren kann? Genau diese hier anskizzierte Gedankenfigur lässt sich bei angemessener Abstrahierung auch auf die immanente Fragestellung im oben benannten Artikel des Spiegel übertagen.