Aritkel in der Wochendausgabe vom 28.04.12
Internet als Heimat
Das Web als die übergeordnet relevante Heimat anzusehen hat mich sehr verwundert, mich sozusagen in einige Wolken des Weltzerfalles getragen, es gibt Fragen, Fragen, Fragen und Feststellungen:
- Wenn wir das Web als unseren primären Lebensraum ansehen, dann zerfallen Jahrtausende alte Werte, dazu ein Beispiel (A) aus der Fantasie: Eine politische Entscheidungsfindung ergibt sich in einem Diskussionsraum, in dem sich ca. zehn Leute um eine gemeinsame Strategie bemühen. Die Sitzung dauert etwa zwei Stunden. es gelingt wie selten, dass ein gemeinsamer Geist greifbar wird, dass man plötzlich ein, zwei Leuten gegenüber eine Toleranz verspürt, die endlich gemeinsames Handeln nahelegt. Beim Verfolgen der Argumente der Anderen blitzte plötzlich eine Möglichkeit auf, die wir drei aus unserer Nah-Gruppierung überhaupt nicht einbezogen hatten, sozusagen ein Paradigma-Wechsel zum Problem. Die gesamte Gruppe legt konkret das Procedere fest einschließlich Zeitziel - Ende der Sitzung, fast sind wir euphorisch gestimmt.
Obiger skizzierter Geschehensfluß weist möglicherweise bestimmte Charakterisitka auf: hitzige Köpfe; einer wird laut; der Stille im Hintergrund; Bewegungen der Hände; überraschtes Gesicht; Augenpaare, die sich begegnen; man hat den Eindruck: "hinter der Stirn des so und so braut sich etwas zusammen"; usf. Unabhängig von dieser Darstellung ist es durchaus denkbar, dass der betreffende gelungene Entscheidungsprozess auch via Blog, Mailverkehr oder Telefonkonferenz zustande gekommen wäre. Ich habe Vegleichbares vereinzelt bei meiner praktischen politischen Arbeit (Ärztenetze) erlebt. Jedoch wäre der Geschehensfluß in der Gesamtheit seiner Merkmale ein ganz anderer gewesen.
Stellen wir uns nun eine andere Situation (B) vor, sagen wir ein Sommerfest im Garten, auch mit Tanz. Teilnehmer etwa 10 bis 20 Leute. Es wird ein total gelungener Abend: kleine Diskussiosgruppen, eine zentrale kurze Rede, auch eine kleine Filmvorführung ca. 10 min aus einer Episode vor 10 Jahren (wo die meisten der Anwesenden dabei waren), Situationskomik, perlendes Lachen der Frauen in der Nacht.
Nur auf den ersten Blick sind Situation A und B sehr verschiedene Begebnisse. Gemessen an den inneren Wegen der Gehirne und an der gegenseitigen Teilhabe sowie der Emotionen, der Konzentration sind sie sehr ähnlich. Sie sind beide ein Stück Spass und Bewältigung in unserer konkreten Lebenslage. Nehmen wir nun an, das das Ergebnis und die Aufarbeitungsdichte von A gleichwertig mittels telegener Netzanwendung (z.B. Blog oder Mailverkehr oder ähnliches) erreicht werden kann, so kann in diesem Sinn auch B realisiert werden. Wir würden in Zukunft also Feiern, Feste ruhig hunderte Kilometer voneinander entfernt veranstalten. Ich kann nicht im Ernst glauben, dass unsere Zukunft so ausschauen soll. Wenn nun aber B mit dem Computer nicht funktioniert, so muss - gemessen an vergleichbarer Inhaltsdichte - auch A (in der nicht-Computer-Version) einen Wert darstellen, den wir auf keinen Fall zerstören dürfen. - Es gibt wahrscheinlich folgenden Zusammenhang: Wenn sich die Welt so schnell verändert, dass unsere Gene überhaupt nicht mehr mitkommen, dann stört oder zerstört diese Konstellation unsere Existenz (2 Beispiele: Festsucht in USA, Dinsaurier). Wir dürfen also nicht "blind" alles schlucken, was das Web an Fantasie bietet.
- Selbst bin ich ein radikaler Befürworter von PC und Internet, jedoch in den Grenzen der Nutzen-Risiko-Abwägung, wie bei allen technischen Errungenschaften, z.B. Messer oder Hammer, kann damit töten oder bauen, ohne macht es jedenfalls keinen Sinn.
- Wir wissen (oder wissen annähernd), dass jeder Mensch unendlich groß ist. Extrapoliert für die Kommunikation bedeutet dies: Wenn wir nur den richtigen Zugang finden, so ist es ein riesiges Abenteuer und eine total spannende Sache, die Gedankenwelt eines x-beliebigen Menschen kennzulernen. Wir brauchen unsere bisherigen Kommunikationstechniken, mit denen wir die Menschen in unserer unmittelbaren Umbebung "aufbrechen". Ich bezweifle sehr, dass die PC-gestützte Auswahl (weltweit und Profil-Suchmaschinen) uns einen riesigen Schritt voran bringt.
- Mich haben die Antworten im Interview sehr beeindruckt, Ehrlichkeit war zu spüren, fundiertes Hintergrundwissen, allen Respekt vor dieser jungen Frau. Auch wenn ich selber mir momentan nicht vorstellen kann, die Piraten zu wählen.