"Der Spiegel" vom 26.08.13
Rezension von Matthias Mattusek über eine
neue Goethe-Biographie des Philosophen Rüdiger Safransiki
Es wird die schier globale Kraft und das Charisma des Protagonisten beschrieben. Als Leser denkt man: Soviel wohl gesetzte Phantasie, Erfolg, Unermüdlichkeit und Kompetenz (Hans Dampf in allen Gassen), vor allem die brillierende Intelligenz und Begabung des jungen wie alten Schriftstellers: Der kann nur Vorbild, ja Ikone sein.
Eine fulminante Leerstelle im Geschriebenen zeigt sich hier, wie in einem Brennglas, dachte ich, Verlust und l e e r e r Hedonismus unserer Zeit: Bei dem ausladenden Profil des Mannes wird doch glatt auf seine mögliche Fehlleistung in der Kindererziehung vergessen, die sich im gescheiterten Leben des Sohnes abbildet. Mit das Wesentlichste im Leben, wie man nämlich mit seinem gezeugten Fleisch und Blut umgeht, spielt anscheinend keine Rolle, ist auch kein Fragezeichen seitens dieser Rezension wert. Es ist wie bei vielen aktuellen Texten: Die Eltern-Kind-Beziehung und vor allem die Innenwelt des Kindes spielt eine ganz untergeordnete Rolle, wenn von gelebter Sexualität, Paar-Beziehungen, geglücktem oder missglücktem Lebensentwurf die Rede ist. Dazu ein Gedankensplitter (Verdacht): Die Dekadenz und Sterbebereitschaft unserer Zivilisation drückt sich in der Missachtung der Kinder aus, welche letztere wir auch nicht mehr so recht zeugen wollen. Bildlich: Was unsere Zukunft anbelangt, sägen wir den Ast ab, auf dem wir sitzen. Hoffentlich stimmt dies nicht ganz.
Ich bin literarisch nicht ausgebildet und kann mir nur begrenzte Urteile erlauben, aber trotzdem meine "Beichte" zu Goethe: Mir war dieser gloriose Mann von Kindheit an suspekt. Vor einigen Jahren stapfte ich mit einem befreundeten Schriftsteller gemeinsam durch Texte von Kafka und Goethe. In konträrer Weise schwärmten wir je für den einen und fanden keinen letztlich zündenden Zugang zum anderen (letzterer bei ihm Kafka, bei mir Goethe). Wir lasen uns gegenseitig über zwei Stunden jeweils geliebte Textstellen vor und versuchten zu evaluieren. Meine Skepsis Goethe gegenüber wurde mir bei dieser Sitzung etwas klarer. Nehmen wir als Beispiel irgendein Rätsel unserer Welt, das es zu beschreiben gilt: Goethe beschreibt das Rätsel in seiner Gestalt und seinen erkennbaren Beziehungen, seinen Widersprüchen. Kafka bildet uns das Rätsel ab und dort, entfernt vom Rätsel selbst sehen wir fast dessen innere Seite.
Ähnlich ist es mit den Worten an sich. Goethe stellt sie uns hin, in allen Farben und im vollen Blut ihrer Aussagekraft. Kafkas Sätze zeigen außen kaum Schmuck, aber wenn die Worte in deinen Gedanken drin liegen, zeigt sich ihre Kraft und die einmalig nahe Verknüpfung von Schönheit, Grammatik und Gedankenflug.
Überspitzt gesagt: Das Universum ist wohl froh darüber, dass nicht nur die gloriosen Köpfe dominieren, dass manchmal auch ein "verkorkstes" Leben mit seinem Unglück die Kraft zu anderer ungeahnter Schönheit aufbringt, deren Begreifen jenen eben fehlt.