„Der Spiegel“ vom 04.02.13 und andere Zeitungen
Mit einem Spiegel-Essay wurde dazu Stellung genommen. Die Autorin kommt recht selbstbewusst daher und stellt mit harten Kanten hin, was da die Wahrheit sei. So ein Impetus macht schon mal verdächtig. Ich muss sagen, dass mich die meisten Statements während der letzten Zeit, wie auch der Text im Spiegel hier, sehr verärgert haben.
Dazu ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns ein Wohnzimmer vor, in dem an den Wänden exponiert pornografische Bilder hängen, im Fernseher läuft eine brutale Frauen-verachtende Sexstory und der Soundtrack hängt sich am übelsten, ebenfalls Frauen-verachtenden Gassenjargon des Rotlichtmilieus auf. In diesem Raum veranstalte ich nun eine Einladung. Der Personenkreis besteht aus Mitbürgern meines Umfeldes. Bei der Gestaltung des Abends und im gegenseitigen Umgang soll wie üblich die stille Übereinkunft zu unseren ethischen Normen gelten. Wir liegen weit ab von den medialen Darstellungen in diesem Zimmer. Dem zufolge soll sich der interpersonelle Raum unserer Gruppe, was den sittlichen Konsens anbelangt, völlig anders gestalten als das vom Zimmer generierte Milieu.
Ist es möglich, die Zusammenkunft einer Personengruppe wie oben beschrieben, als eine gute und akzeptierte Aktion zu gestalten? Die Antwort lautet nein. Die Eingeladenen würden sagen, dass sie nicht bereit wären, die hier dargestellte Sauerei zu erdulden, man könne doch nicht inmitten von aggressiv vermittelter Unvernunft und Menschenverachtung vernünftig reden. Ähnlich geht es mir mit der angesprochenen Debatte im öffentlichen Raum. Dort wird, von dem aktuell in Rede stehenden Fehlverhalten abgesehen, mit aggressiven Kahlschlag Stück für Stück alles abgeräumt, was bisher, z.B. im Bereich der Erotik, als ethischer Konsens galt (Stichworte: zehnjährige Kinder gucken Hardcore-Pornos auf dem Handy; per Internet ist ubiquitär jeglicher Porno-Stoff zu haben; Teile der Bevölkerung nutzen dieses Medium zur Orgasmus-Generierung; Prostitution erfährt im Deutschen Bundestag eine Status-Verbesserung für die Betroffenen, seither blüht dieser Markt auf, so der Tenor in einer dazu einschlägigen Günther-Jauch-Sendung während der letzten Wochen). Viele Bürger fühlen sich durch den anschwellenden Wust u. a. aus der Medien-Spirale belästigt und belastet und wir alle lassen es dabei.
Nun sehe ich uns Bürger in diesem öffentlichen Raum (in Analogie zu dem oben beschriebenen Zimmer) diskutieren und argumentieren, was zwischenmenschlich, den Eros betreffend, erlaubt sei und was nicht. Ich kann mir nicht helfen, aber das aktuelle Verhandlungsprofil weist deutliche Merkmale der Scheinheiligkeit auf, indem man so tut, als befände man sich auf einem wohl geordneten Boden des ethischen Konsenses, wenn nur nicht diese Anmache am Arbeitsplatz, die Allüren-haften Annäherungen aus der Chefetage etc. wären. Richtig wäre es dagegen, den damit verbundenen Umständen Rechnung zu tragen, dass nämlich unsere aktuell anstehenden Fragen zu Ethik und Eros viel tiefer gehen und möglicherweise viel schwerwiegendere Fehlentwicklungen drohen, wie oben mit dem „Kahlschlag“ des ethisch-erotischen Konsenses angedeutet.
Aus dem beschriebenen Zusammenhang heraus finde ich die Angriffe gegen Herrn Brüderle bombastisch lächerlich und die in die innere Persönlichkeit zielenden Zuspitzungen bösartig.
Zur zeitgeschichtlichen Entwicklung unseres Verständnisses von Erotik treffe ich gerade auf eine Archivierung, nämlich einen Zeitungsartikel (wahrscheinlich „Der Spiegel“) aus dem Jahr 1996, und zwar ein Zitat aus einem Interview mit Professor Christian Meier, damals Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt:
„Ich habe mich über vierzig Jahre lang gesträubt, Parallelen zwischen der Spätantike und heute zu ziehen. Inzwischen kann ich mich dem nicht mehr ganz verweigern. Manchmal kommt mir ein Gedanke von Gottfried Benn in den Sinn: Es zerfalle nicht eine Rasse, ein Kontinent oder eine soziale Ordnung, sondern ein ganzer Schöpfungsentwurf werde zukunftslos.“